Frage:
Was ist die islamische Rechtsauffassung zu Steuern?
Antwort:
Steuern (الضرائب) sind das, was in der islamischen Rechtsterminologie als المكوس (ungerechtfertigte Abgaben) bezeichnet wird. Es herrscht unter muslimischen Gelehrten Einigkeit darüber, dass diese المكوس unzulässig sind – mit einer Ausnahme, die Imam Schatibi (möge Allah ihm barmherzig sein) in seinem bedeutenden Werk „Al-Iʿtiṣam“ mit überzeugenden Beweisen erläutert. Darin unterscheidet er präzise – wie selten in anderen Büchern – zwischen Neuerungen (Bidʿa) und anderen Konzepten. Er betont, dass der Ausspruch des Propheten (sall Allahu alayhi wa sallam):
„Jede Neuerung ist Irreleitung, und jede Irreleitung führt ins Höllenfeuer“
allgemein, uneingeschränkt und umfassend zu verstehen ist.
Es gibt im Islam keine sogenannte ‚gute Neuerung‘ (Bidʿa Hasana). Dies liegt erstens daran, dass dafür weder im Qurʾan noch in der Sunnah ein Beleg existiert, und zweitens widerspricht sie den allgemeinen Hadithen, die jede Form der Bidʿa verurteilen. Dazu gehört auch der von den beiden Scheichen (al-Buchari und Muslim) überlieferte Hadith von ʿaʾischa (radiyallahu anha), in dem der Gesandte Allahs (sall Allahu alayhi wa sallam) sagte:
{ من أحدث في أمرنا هذا ما ليس منه ؛ فهو رد }
„Wer in unserer Angelegenheit (d.h. im Islam) etwas erfindet, das nicht dazu gehört, dem wird es zurückgewiesen.“
Imam Schatibi bekräftigt in seinem Werk, dass diese Hadithe in ihrer Allgemeingültigkeit anzuwenden sind: „Jede Neuerung ist Irreleitung“, ohne Ausnahme. Allerdings geht er in seiner tiefgründigen Analyse auf das Konzept der المصالح المرسلة („Masaalih al-Mursala“ – öffentliche Interessen) ein, das spätere Gelehrte fälschlicherweise mit der „guten Neuerung“ gleichsetzen. Hier besteht ein gewaltiger Unterschied:
المصالح المرسلة beziehen sich auf spezifische Umstände oder zeitliche Erfordernisse, die einen scharia-konformen Nutzen bewirken, wie z.B. die Verteidigung der muslimischen Gemeinschaft. Dies hat nichts mit einer „Bidʿa Hasana“ zu tun, bei der es um vermeintliche „religiöse Verdienste“ geht – also um Handlungen, die als „Annäherung zu Allah“ hinzugefügt werden, obwohl sie weder im Qurʾan noch in der Sunnah verankert sind.
Imam Malik (möge Allah ihm barmherzig sein) brachte dies prägnant zum Ausdruck:
„Wer im Islam eine ‚gute Neuerung‘ einführt und sie als gut bezeichnet, der behauptet implizit, dass Muhammad (sall Allahu alayhi wa sallam) die Botschaft verraten habe. Lest Allahs Wort:
{ الْيَوْمَ أَكْمَلْتُ لَكُمْ دِينَكُمْ وَأَتْمَمْتُ عَلَيْكُمْ نِعْمَتِي وَرَضِيتُ لَكُمُ الْإِسْلَامَ دِينًا }
„Heute habe ich eure Religion für euch vervollkommnet, meine Gunst an euch vollendet und den Islam als eure Religion erwählt“ [Surah Al-Ma'ida 5:3]
Was zur Zeit des Propheten keine Religion war, kann auch heute keine Religion sein. Das Ende dieser Gemeinschaft kann nur durch das geheilt werden, was ihr Anfang heilte.“
Imam Schatibi unterstreicht, dass die islamisch legitimierten Steuern sich grundlegend von den heute in den meisten – wenn nicht allen – islamischen Ländern eingeführten festen Steuergesetzen unterscheiden, die lediglich Nachahmungen nichtislamischer Systeme sind. Muslime dürfen die von Allah offenbarte Scharia niemals durch von Menschen gemachte Gesetze ersetzen, wie Allah warnt:
{أَتَسْتَبْدِلُونَ الَّذِي هُوَ أَدْنَىٰ بِالَّذِي هُوَ خَيْرٌ}
„Wollt ihr etwa das Schlechtere gegen das Bessere eintauschen?“ (Surah Al-Baqarah 2:61)
Steuern dürfen im Islam keine dauerhaften Gesetze sein, als wären sie „vom Himmel herabgesandte Scharia“. Vielmehr darf ein islamischer Staat ausschließlich unter bestimmten Notlagen vorübergehend Steuern erheben. Ein Beispiel Imam Schatibis:
Wenn ein islamisches Land angegriffen wird und die Staatskasse leer ist, um eine Armee zur Verteidigung aufzustellen, darf der Staat zeitlich begrenzt Steuern von wohlhabenden Personen erheben. Sobald die Bedrohung beseitigt ist, entfallen diese Steuern, denn – wie die Gelehrten sagen: „Die Regelung folgt ihrem Anlass: mit seinem Vorhandensein und seinem Wegfall.“
Zusammenfassung:
Im Islam gibt es keine fest institutionalisierten Steuergesetze. Ein muslimischer Staat darf nur temporäre Steuern in konkreten Notsituationen erheben. Wenn die Umstände enden, enden auch die Steuern.
Scheich Nasiruddin al-Albani, rahimahullah
Quelle: الفتاوى الإماراتية - Fataawa al-‘Emaaraat, Band 1, Frage Nr. 3. (Fatwa Nr. 28) ما حكم الإسلام في الضرائب ؟
Betrügen, um Steuern zu vermeiden
Frage:
Ist es haram, durch Betrug die Abgabe von Steuern zu vermeiden?
Antwort:
Betrug ist zweifellos kein rechtmäßiger Weg gemäß der Scharia. Andererseits haben wir – wie in der vorherigen Erklärung dargelegt – klargestellt, dass Steuern im Islam ursprünglich nicht legitimiert sind. Dennoch ist es einem Muslim nicht gestattet, Methoden anzuwenden, die gegen das bestehende System verstoßen (wie in der Fragestellung: Steuerhinterziehung durch Betrug und Falschangabe), wenn dies zu einer Stigmatisierung der Religiösen (Muslime) führen würde. Eine solche Stigmatisierung würde letztlich auf die Religion selbst zurückfallen. Daher lehnen wir diese Art der Steuervermeidung ab.
Grundsätzlich sind diese Steuern eine Form von Ungerechtigkeit, da sie etwas auferlegen, das Allah (subhana wa ta'ala) nicht angeordnet hat. Wenn ein Muslim sich ohne Schaden für die Religion – oder zumindest ohne dass Gläubige dadurch in Verruf geraten – davon befreien (bzw. diesen vermeiden) kann, ist dies zulässig. Andernfalls nicht.
Scheich Nasiruddin al-Albani, rahimahullah
Quelle: الفتاوى الإماراتية - Fataawa al-‘Emaaraat, Band 6, Frage Nr. 5 (Fatwa Nr. 71) هل الاحتيال لعدم دفع الضرائب حرام ؟
Übersetzung: Abu Davut Konyevi
Anmerkung:
Die hier präsentierten Fataawa dienen ausschließlich der Darlegung der islamischen Rechtsmeinung über Steuern. Diese stellen keinesfalls eine Aufforderung zu rechtswidrigem Handeln, insbesondere nicht zur Steuerbetrug oder zum Verstoß gegen geltendes Recht, dar.